M. Kravetz: Women Doctors in Weimar and Nazi Germany

Cover
Titel
Women Doctors in Weimar and Nazi Germany. Maternalism, Eugenics, and Professional Identity


Autor(en)
Kravetz, Melissa
Reihe
German and European Studies 34
Erschienen
Anzahl Seiten
XIV, 326 S.
Preis
£ 51.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wiebke Lisner, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Hertha Nathorff, Ärztin in Berlin, beschrieb am 16. April 1933 in ihrem Tagebuch die Versammlung des Bundes Deutscher Ärztinnen (BDÄ), auf der die „Gleichschaltung“ des Verbandes angekündigt und umgesetzt wurde: Die kurz zuvor eingesetzte neue Führung des BDÄ forderte alle Jüdinnen auf, den Saal zu verlassen. Nathorff, die langjähriges Mitglied war, empörte der Ausschluss „bis ins Innerste“.1 Sie schämte sich für die „arischen“ Ärztinnen, die sitzen blieben und damit ihren jüdischen Kolleginnen die Solidarität versagten. Mit Hertha Nathorff wurden nach Schätzung von Melissa Kravetz bis Juni 1933 rund ein Drittel aller Mitglieder ausgeschlossen, weil sie Jüdinnen waren (S. 133–135).

In die Phase der „Gleichschaltung“ fiel ein Generationenwechsel. Viele der jüngeren Ärztinnen waren Mitglied in NS-Organisationen und unterstützten das NS-Regime. Obgleich Ausschluss der Jüdinnen und Generationenwechsel tiefgreifende Umbrüche in der personalen Zusammensetzung des Verbandes bewirkten, konstatiert Melissa Kravetz in der erweiterten Fassung ihrer an der Universität Maryland (USA) eingereichten Dissertation eine Kontinuität der Tätigkeit des BDÄ. Den rund zwei Dritteln nicht-jüdischen und nicht-verfolgten Mitgliedern des BDÄ gelang es, ihre in der Weimarer Republik begonnenen Karrieren fortzusetzen (S. 171).

Melissa Kravetz nimmt Ärztinnen als eigene Gruppe innerhalb der medizinischen Profession systematisch in den Blick und untersucht ihr Engagement, etwa als Schulärztinnen oder in den Muttermilchsammelstellen. Sie verknüpft dies mit Fragen nach dem Beitrag der Ärztinnen zur Bevölkerungs- und Familienpolitik während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, ihrer Positionierung innerhalb des Eugenik- bzw. Rassenhygienediskurses und ihrer (diskursiven) Beteiligung an der Neubildung der Nation nach dem Ersten Weltkrieg sowie der Konstitution der „Volksgemeinschaft“. Anhand der bisher nur wenig bearbeiteten Akten des BDÄ im Helene-Lange-Archiv sowie von Egodokumenten gelingt es Kravetz, Argumentationsmuster, rhetorische Strategien, Deutungen und Eigenwahrnehmungen von Ärztinnen im BDÄ sowohl hinsichtlich ihrer Kontinuitäten als auch ihrer Brüche herauszuarbeiten. Sie beleuchtet damit Professionalisierungsprozesse von Ärztinnen und jene bedeutsame Frage, ob und wie diese vom NS-Regime profitierten und sich in den Dienst nehmen ließen.

In Preußen waren Frauen im internationalen Vergleich spät zum Medizinstudium zugelassen worden. Die erste Generation von Ärztinnen erhielt ihre Approbation während oder direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Bis zum Zweiten Weltkrieg nahm der Anteil der Ärztinnen kontinuierlich von rund fünf Prozent im Jahr 1925 auf rund zwölf Prozent im Jahr 1942 zu. Etwa ein Viertel war 1933 Mitglied im 1924 gegründeten BDÄ, dem einzigen Berufsverband weiblicher Ärzte in Deutschland (S. 13–14). Der BDÄ trat sowohl vor als auch nach 1933 für berufliche Belange von Ärztinnen, für eine geschlechtergerechte medizinische Versorgung sowie für Rechte von Frauen als Patientinnen ein. Aufgrund ihres Geschlechtes erlebten Ärztinnen von Beginn ihrer Zulassung an vielfältige Diskriminierungen. Von einer strikten Geschlechterdifferenz ausgehend, legitimierten sie ihre professionellen Forderungen zugleich mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, wie Mütterlichkeit, die sie als ihre Stärke und besondere Qualifikation zur Gesundheitsversorgung von Frauen und Kindern interpretierten und propagierten.

Reproduktion und Mutterschaft waren sowohl während der Weimarer Republik als auch im Nationalsozialismus Kernpunkte der Gesundheitspolitik sowie eugenischer bzw. rassenhygienischer Diskurse, wenn auch in völlig unterschiedlichen Kontexten. Dem BDÄ gelang es hieran anknüpfend, in beiden Systemen professionelle Nischen für Ärztinnen zu schaffen. Sie besetzten medizinische Felder, die ihren entworfenen und propagierten „weiblichen“ Qualifikationen entsprachen, häufig aber schlecht bezahlt und bei männlichen Ärzten wenig beliebt waren.

In das NS-Regime setzten nicht-verfolgte Ärztinnen die Hoffnung, ihre Forderungen nach Gesundheits- und Fürsorgeprogrammen für Frauen und Kinder und damit ihre professionelle Nische und Identität zu stärken. Ärztinnen sicherten dem NS-Staat im gleichen Zuge ihre Loyalität zu und boten sich als Multiplikatorinnen der NS-Gesundheitspolitik an. Mit dieser Strategie gelang es Ärztinnen, ihre professionellen Nischen diskursiv und in der Praxis zu behaupten und sogar auszubauen. Allerdings beschränkte der BDÄ seine Tätigkeit ab 1933 auf als „wertvoll“ und als zur „Volksgemeinschaft“ gehörig Erachtete; rassenhygienischen und kriegswichtigen Zielen räumte der Verband Priorität ein. Ebenso änderten sich Bedingungen und entworfene Bezugspunkte der Tätigkeit von Ärztinnen, weg vom Weimarer Wohlfahrtssystem, das eine individualisierte Gesundheitsversorgung priorisierte, hin zum auf Rassenhygiene, Rassenpolitik und Selektion basierenden NS-Gesundheitssystem mit seinem Fokus auf eine „exklusive Volksgemeinschaft“ (S. 8). Damit einhergehend änderten sich die Tätigkeitsfelder der Ärztinnen des BDÄ. Waren sie während der Weimarer Republik noch vorwiegend in Eheberatungszentren, in der Schulgesundheitsreform, den Bewegungen gegen Alkohol, Geschlechtskrankheiten und Prostitution tätig, engagierten sie sich nun im Bund Deutscher Mädel sowie im Reichsmütterdienst und bauten verstärkt Muttermilchsammelstellen auf.

Melissa Kravetz arbeitet die zentrale Bedeutung und Verschränkung der Kategorien „Geschlecht“ und „Klasse“ in Argumentationsmustern und medizinischer Praxis der Ärztinnen heraus. Ärztinnen gehörten in der überwiegenden Mehrheit der Mittel- und Oberschicht, ihre Patientinnen hingegen häufig unteren sozialen Schichten an. Über diese Klassenunterschiede hinweg, so die These der Autorin, gelang es Ärztinnen und Patientinnen aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit von Vertrauen geprägte Beziehungen aufzubauen. Sie geht davon aus, dass dies insgesamt positiven Einfluss auf Kontakte zwischen den verschiedenen sozialen Schichten innerhalb der deutschen Gesellschaft hatte. Allerdings nutzten Ärztinnen zugleich ihre unter anderem in ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit begründete Autorität sowie ihren medizinischen Expertenstatus, um gesundheitsbezogene Vorstellungen der Mittel- und Oberschicht zum Beispiel hinsichtlich der Versorgung von Kindern durchzusetzen. Mehr noch nutzten sie die Bedürftigkeit ihrer Klientel, um eigene professionelle Forderungen zu legitimieren. Zu hinterfragen ist vor diesem Hintergrund, ob und in welcher Weise eine auf Geschlechtszugehörigkeit basierende angenommene Vertrautheit ein spezifisches Verhältnis in der Ärztinnen-Patientinnen-Beziehung begründete. Melissa Kravetz geht von einem solchen aus, ohne ausführlicher auf dessen Genese einzugehen. Die Rezeption emotionsgeschichtlicher Arbeiten zu „Vertrauen“ hätte hier eine weitere Reflexionsebene eröffnen können.2 Patientinnen als Akteurinnen sind in der Arbeit wenig sichtbar. Hätten sie ihr Verhältnis zu Ärztinnen sowohl zur Zeit der Weimarer Republik als auch des Nationalsozialismus als von Vertrauen gekennzeichnet beschrieben?

Melissa Kravetz‘ Forschungsbefunde sind vielfach nicht überraschend und bestätigen Arbeiten, wie zum Beispiel die von Atina Grossmann.3 Hervorzuheben ist jedoch ihr Befund zur Mitgliederstruktur des BDÄ vor 1933. Ein Drittel der Mitglieder waren Jüdinnen. Damit war der Anteil an Jüdinnen wesentlich höher als in anderen Frauenberufsverbänden, wie zum Beispiel denen der Hebammen. Dies unterstreicht die Bedeutung des BDÄ für christliche und jüdische Frauen der Mittel- und Oberschicht in ihrem Bestreben nach beruflicher Autonomie und Professionalisierung bis 1933. Der Ausschluss der jüdischen Mitglieder 1933 stellt einen eklatanten Bruch dar. Die vom BDÄ bemühte und von Kravetz beschriebene Rhetorik, über diesen Bruch hinweg eine Kontinuität herzustellen, wirft ein Licht auf Anstrengungen des NS-Regimes, Zumutungen und Ausschluss zu „normalisieren“ sowie die hohe Bereitschaft der „arischen“, nicht verfolgten Bevölkerung, das Regime zu unterstützen. Interessant wäre es (eventuell in einer Folgearbeit?), mehr über die jüdischen Mitglieder des BDÄ zu erfahren, die 1933 wie Herta Nathorff aus dem BDÄ ausgeschlossen wurden. Wer waren diese Frauen? Hertha Nathorff emigrierte nach New York. Gelang es ihr und mit ihr anderen ausgeschlossenen Ärztinnen, ihre berufliche Tätigkeit fortzusetzen?

Obgleich einige Fragen offenbleiben, hat Melissa Kravetz mit ihrer Studie zu Ärztinnen in Deutschland vom Beginn der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs eine medizin- und geschlechtergeschichtlich wichtige Arbeit vorgelegt, der eine breite Rezeption zu wünschen ist.

Anmerkungen:
1 Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York Aufzeichnungen 1933 bis 1945, hrsg. v. Wolfgang Benz, Frankfurt am Main 1987, S. 40.
2 Vgl. Ute Frevert (Hrsg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003.
3 Vgl. Atina Grossmann, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform 1920–1950, New York 1995.

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